Als Wladimir Kaminer nach Deutschland kam, gab es zwei davon, in Ostberlin, Hauptstadt der DDR, mischte er mit seiner „Russendisko“ das Kaffee Burger auf, seit langen Jahren Treffpunkt der dortigen Kulturszene, und rührte ineinander, was gerade aufeinander prallte, Schwermut und Techno, Tiefsinn und Blödelei, Glasnost und Retromania. Sein Stil wurde zum Sound der Wendejahre und Kaminer ihr Deuter: Alles schien möglich dem, der seiner Deutung glaubte, noch nie in der Geschichte des Westens war Optimismus und die Lust auf das, was passiert, so lakonisch, so treuherzig, so unmittelbar wie Kaminers Witz in der Wende.
Noch nie und seitdem nie wieder. Seit dem 24. Februar 2022, dem Tag, an dem für jeden im Westen deutlich wurde, dass Putins Russland die Ukraine seit langen zehn Jahren bereits überfällt. „Ich schäme mich“, sagt Kaminer, „ich bin doch derjenige, der seit über 30 Jahren hier an jeder Ecke erzählt hat, wie großartig und kreativ Russland sei und was das für tolle Menschen seien, europäisch denkende, die auf dem richtigen Weg seien, und dann das … diese kannibalischen, patriotischen Orgien …“
Kaminer titelt um, er lädt zur "Ukrainedisko" ein, er unterstützt oppositionelle Journalisten in der Hoffnung, sie könnten aus dem europäischen Ausland heraus eine russische Öffentlichkeit erreichen und eine kritische Öffentlichkeit herstellen in einer Gesellschaft, von der er heute sagt, sie blamiere sich vor sich selbst, seit 25 Jahren lasse sie sich „von demselben Kerl regieren“, sitze zuhause "und schaut fern" - darin nicht viel anders als Putin selber, den er einen „Garagenrentner“ nennt. So werden in Russland die „sowjetischen Frührentner der Staatssicherheit“ genannt, „Leute, die noch fit sind, aber nicht mehr arbeiten müssen. Also sitzen sie hinter der Garage mit einem Bier und sinnieren über die Ordnung der Welt."
Vor diesem Hintergrund liest sich Kaminers neues Buch wie eine Rückbesinnung auf das, was Europa ausmacht: die Neugier auf seine Nachbarn, die Lust, Menschen zu begegnen, die man nicht kennt. Noch nicht.
Es dürfte wenig andere geben, die so neugierig auf ihre Nachbarn sind wie Wladimir Kaminer. Egal ob es um einzelne Menschen geht oder um ganze Länder. Und wie könnte man einander besser kennenlernen als beim gemeinsamen Essen? Zu Gast an fremden Tischen, verleibt man sich - wenn neugierig wie Kaminer - nicht nur die Esskultur der anderen ein und ihren Geschmack, man erfährt auch deren Träume, Wünsche, Sorgen und Hoffnungen. Auf seinen Reisen durch Europa nascht Wladimir Kaminer von den Tellern Portugals ebenso wie aus den Honigtöpfchen Bulgariens, er trinkt den Wein der Republik Moldau und tunkt den Löffel in die Töpfe Serbiens.
Vor allem aber kommt er mit den Menschen ins Gespräch und taucht tief in deren Geschichte und Geschichten ein. Seine Streifzüge zeigen ein Europa, das so ist, wie seine Speisen sind: vielfältig, überraschend und mit dem Geschmack, der Freundschaften schafft.